Familienpflege in Zeiten von Corona

Herrenberg, 22. Juli 2021. Sandra Pfeifer und Tabea Kimmich unterrichten in der Familienpflegeschule in Korntal und arbeiten in der Praxis in den Familien. Im Interview erzählen sie, welche Auswirkungen die Pandemie auf ihre Arbeit hat und warum gerade jetzt die Familienpflege wichtiger denn je ist.

Sandra Pfeifer:
Ich unterrichte seit elf Jahren an der Familienpflegeschule – das Fach Pädagogik. Die Schule und der Beruf liegen mir sehr am Herzen, deshalb werde ich mich einbringen, um dieses so wichtige Berufsfeld am Leben zu halten. Hauptberuflich bin ich für die Einsatzleitung Familienpflege bei der Sozialstation Leonberg verantwortlich. Ich selbst bin Diplom-Sozialpädagogin und vor 23 Jahren kam unsere Tochter zur Welt, wobei es zu Komplikationen kam und ich Unterstützung einer Familienpflegerin hatte. In dieser Zeit habe ich gesehen, wie enorm wichtig dieses Berufsfeld für die gesamte Gesellschaft ist. Es hat mich sehr fasziniert und deshalb habe ich nach der Elternzeit dort angefangen. Mittlerweile bin ich seit 20 Jahren in Leonberg. In all dieser Zeit habe ich so viele tolle Familien erleben dürfen und es war immer gut, dass es so eine Institution gibt. Die Familienpflege hat sich immer weiterentwickelt, so waren wir früher beispielsweise zu viert. Mittlerweile sind wir über 50 Personen – inklusive Auszubildende. Und trotz dieser großen Anzahl an Mitarbeitenden ist es nicht ausreichend, um alle Anfragen abdecken zu können.

Wann genau bekommt man Unterstützung von der Familienpflege?

Tabea Kimmich:
Man hat einen Anspruch, wenn die haushaltsführende Person - aus was für Gründen auch immer - ausfällt. In der Regel sind das gesundheitliche Gründe. Ein stationärer Aufenthalt, eine Chemo, eine Operation oder auch psychische Erkrankungen.

Sandra Pfeifer:
Psychische Erkrankungen haben leider zugenommen – auch palliative Situationen. Im Prinzip erleben wir immer die Bandbreite des Lebens. Wir können den Familien nicht den Schicksalsschlag nehmen, aber die zusätzlichen Sorgen. Wir kümmern uns darum, dass in der Zeit, wenn wir da sind, es den Familien gut geht und die Kinder oder der Haushalt versorgt sind. Wir leisten damit den Eltern Beistand. Wenn man als Mutter oder Vater bei der Chemo sitzt, ist es eine Beruhigung zu wissen, dass jemand die Kinder von der Schule abholt und ihnen etwas zu Essen macht.

Tabea Kimmich:
Man benötigt ein ärztliches Attest, dann übernimmt das die Krankenkasse. In der Politik wird derzeit viel diskutiert, wie man den Familien während der Pandemie helfen und sie entlasten könnte. Dann wird über einen Bonus und die Höhe gestritten. Was den Familien aber tatsächlich helfen würde, ist genau die Familienpflege, die setzt man genau dort ein, wo es nötig ist – direkt IN den Familien. Es wird eine Stundenzahl bewilligt und man bespricht mit jeder Familie individuell wie diese Stunden eingesetzt werden sollen – im Haushalt, in der Kinderbetreuung oder im Homeschooling. Es ist eigentlich unvorstellbar, dass diese Berufssparte von der Politik gar nicht wahrgenommen und auch nicht unterstützt wird. In Baden-Württemberg gibt es nur noch zwei Schulen, die Familienpfleger:innen ausbilden und diese Schulen haben schon sehr zu kämpfen. Angesichts der aktuellen Nöte und des steigenden Bedarfs eigentlich völlig unverständlich. Es fehlt ganz offensichtlich eine starke Lobby. Und die Gesellschaft muss doch während Corona gemerkt haben, was Familien alles leisten – und das alleine schon bei „gesunden" Familien. Ich selbst unterrichte an der Familienpflegeschule das kleinste Fach – Berufskunde. Man lernt was dieser Beruf ist und welche rechtlichen Themen mit dranhängen, sei es Datenschutz, Schweigepflicht und wie die Zusammenarbeit mit Krankenkassen, Jugendämtern Kindergärten etc. ist. Hauptberuflich leite ich die Sozialstation in Bönnigheim – ich vermittle die Familienpfleger:innen an die Familien, die einen Bedarf haben. Wir haben einen Familienpflegepool, wenn wir selbst ausgelastet sind, dann vermitteln wir die Familien an andere Stationen, da herrscht bei uns eine sehr starke Zusammenarbeit mit verschiedenen Stationen. Wir alle wissen, wie wichtig es ist und ziehen an einem Strang.

Was hat sich denn während Corona verändert? Viele sagen ja, dass doch gar kein Bedarf mehr da ist, wenn jetzt alle Eltern zu Hause sind.

Sandra Pfeifer:
Ja, das ist natürlich sehr kurz gedacht, denn es finden ja trotz Corona Erkrankungen statt.

Tabea Kimmich:
Am Anfang ist es kurz weniger geworden, weil es ganz klare Ansagen seitens der Politik gab, man muss Abstand halten. Aber man hat relativ schnell gemerkt, dass das die Familien nicht packen. Früher ist ja auch noch mal eben schnell die Nachbarin kurz eingesprungen oder die Oma, aber das fällt ja derzeit alles weg – das komplette Hilfenetzwerk bricht zusammen, um die Kontakte zu reduzieren.

Sandra Pfeifer:
Vor allem sollte man beachten, dass wir nicht in Familien gehen, die derzeit etwas gestresst mit Homeoffice und Kinderbetreuung sind, sondern unsere Familien hatten ja schon vor Corona einen Bedarf – die Pandemie verschlimmert die Situation nun zusätzlich. Letztes Jahr im März 2020 waren die Schulen und Kindergärten geschlossen, da war es für die Familien anstrengend, aber man hat es irgendwie durchgehalten, weil man die Hoffnung hatte, es endet bald. Dann gab es eine kurze Verschnaufpause im Sommer. Nach den Ferien, als die zweite Welle kam, da hat die Energie schon deutlich abgenommen. Nach Weihnachten mit der dritten Welle hat man gemerkt, dass die Ressourcen von Familien weniger wurden. Wenn man zum Beispiel eine Chemo hat, die Kinder ganztägig zu Hause sind, man sich um Essen, Haushalt und Homeschooling kümmern muss – das ist nicht auszudenken. Oder wenn die Mutter oder der Vater im Krankenhaus liegt, die Kinder wochenlang von der Mutter oder dem Vater getrennt sind, weil Besuche in den Krankenhäusern nicht gestattet sind, der Vater oder die Mutter alleine mit den Kindern zu Hause ist – einerseits mit den Sorgen um die schwerkranke Mutter oder Vater, andererseits die Kinder neben seinen beruflichen Pflichten versorgen muss.

Tabea Kimmich:
Es gibt ja zum Beispiel auch Einrichtungen für Kinder mit Behinderungen, diese Schulen und Internate hatten ja auch geschlossen. Dann hat man ein Kind zu Hause mit Pflegegrad 5, das rund um die Uhr versorgt werden muss, zusätzlich zum Homeschooling der Geschwisterkinder, dem Haushalt und arbeiten sollte man auch noch nebenher, weil so viele Kind-Krank-Tage vom Arbeitgeber auch nicht immer mitgetragen werden. Sie können sich auch gar nicht ausdenken, wie viele Wochenbettdepressionen wir erlebt haben, weil die Väter bei der Geburt nicht dabei sein konnten und die Frauen alleine sind - das hat deutlich zugenommen.

Sandra Pfeifer:
Was den Familien abverlangt wurde, ist eine enorme Leistung. Auch für uns war es nicht ganz einfach, die Arbeit zu leisten, denn auch die Familienpfleger:innen hatten teilweise die Kinder zu Hause, da kann man nicht im Homeoffice arbeiten. Aber wir haben es in all der Zeit nicht einmal erlebt, dass uns eine Familie nicht hereingelassen hat. Die Hilfe wurde immer als sehr wertvoll empfunden, das ist schön. Und die Familien haben uns immer eine sehr große Wertschätzung entgegengebracht. Ich muss auch wirklich alle loben, denn sie haben sich immer strikt an die Hygieneschutzmaßnahmen gehalten. Ich empfand das sehr bezeichnend, dass alle immer sehr vorsichtig waren, da sie auch uns nicht gefährden wollten. Wir hatten einen sehr offenen und ehrlichen Umgang, da muss ich wirklich den Hut vor den Familien ziehen für diese hervorragende Zusammenarbeit während der Krise.

Was hat sich sonst während Corona verändert?

Tabea Kimmich:
Ein Problem während der Pandemie sind zum Beispiel auch die veränderten Arbeitsbedingungen in den Behörden. Da alle Sachbearbeiter:innen im Homeoffice sitzen, dauern auch die Anträge länger. Wir müssen teilweise zwei Wochen warten bis wir eine Genehmigung endlich auf dem Tisch liegen haben und dann waren die zwei Wochen womöglich schon mitgenehmigt. Ich gehe aktuell zu 95 Prozent in Familien, bei denen wir nicht wissen, ob der Einsatz bezahlt wird. Aber ich kann eine überlastete Familie, die in Not ist, nicht zwei Wochen warten lassen, bis alle bürokratischen Hürden genommen sind, die Familien benötigen JETZT unsere Unterstützung.

Erschwerend kommt hinzu, dass man seine Einsatzpläne oft erst morgens machen konnte, weil sich täglich etwas geändert hat oder der Kindergarten spontan geschlossen hat. Eigentlich ist die Situation schlimmer als 2020, aber man hat sich so an den Zustand gewöhnt - er ist zum Alltag geworden.

Sandra Pfeifer:
Außerdem kommt noch hinzu, dass Menschen, die erkrankt sind und Unterstützung benötigen, sehr von den Kontaktbeschränkungen betroffen sind. In dieser Zeit war die Familienpflege für die Familien eine wertvolle Unterstützung, da die Familien durch die Kontaktbeschränkungen nicht auf bestehende soziale Kontakte zurückgreifen konnten.

Ein weiter Punkt ist, dass durch das vermehrte Homeoffice und Homeschooling alles miteinander verschwommen ist – Beruf, Schule, privat – gab es auch keine Begrenzung. Das ist für die Kinder und Familien schwer, denn die natürlichen Grenzen, die einem der Alltag gegeben hat vor der Pandemie, fallen weg.

Für mich ist klar, die Familienpflege ist für die Gesellschaft – gerade während der Pandemie – wichtiger denn je. Dies sollte sowohl aus politischer als auch aus gesellschaftlicher Sicht einen neuen Blickwinkel erfahren, wie in vielen weiteren sozialen Berufen.